Andrea Lüth
HOTEL
14.10. — 04.11.2022

Den Zweifel am Zweifel bezweifeln
Zehn zweifelhafte Thesen zum Werk Andrea Lüths

  1. Geht man davon aus, dass der rohe Kreativprozess, der jeder Kunst welcher Form immer, vorausgeht,niemals fertige Einsichten und damit fertige Formen liefert, so ist jede Kunst wie jede Art des Wissens, und zwar immer schon, zweiflerisch und fragmentarisch gewesen. Kunst heißt Zielen auf ein unsichtbares Ziel.

  2. Einsichten werden erlebt und auch der künstlerische Einfall wirkt erhellend, obwohl er nichts erhellt. Wir bringen uns, durch Konzentration auf ein Problem, das immer in eine weitere Problematik eingebettet ist, die ihrerseits wenigstens an ihren Rändern immer ins unbewusst Biologische, Instinktive, Intuitive ausragt, zum plötzlichen Drang, etwas sagen, zeichnen, ausdrücken usw. zu können.

  3. Besser statt „ausragen“ wäre wohl „einragen“, denn für Kunstschaffende ist es immer das, was sie an einem Problem nicht verstehen, das kraft seiner magischen, d.h. unberechenbaren Wirkung fasziniert. Dies freilich birgt auch psychische Risiken wie die Melancholie, die temporäre Hybris, die Kunstsucht etc., die
    WissenschaftlerInnen oft lange erspart bleiben.

  4. Andrea Lüths so schnell aufblitzende wie hingeworfene Gedankenfragmente verrätseln, weil, sowohl mal- und zeichentechnisch als auch gedanklich, die Beziehung zwischen Hintergrund und Vordergrund unklar bleibt. Ein malerischer Hintergrund wird tapeziert und verlangt dann wieder einen grafischen Vordergrund, obschon der eigentliche Gedanke des Werks im Hintergrund bereits aufgeht. So verströmen fast alle Bilder eine Atmosphäre des Geistesblitzes oder zumindest originellen Einfalls, die durch die künstlerische Ausführung danach wieder in
    Frage gestellt werden, weil das Gewicht der Formtradition, der Avantgarde, ja kurz: das Gewicht der Kunst zu schwer wiegt, um dem lockeren Einfall zu entsprechen.

  5. Das Schöne daran scheint mir die Melancholie, die selbst aus den witzigsten, ins Groteske, Halbfertige oder in den Slapstick spielenden Werken spricht. Der „Genius“ taucht kurz auf, als Einfall eben, dämonisch – doch da! die Mittel "gehen nicht mehr" und sind als solche nur noch zu Kommentaren auf die Kunstgeschichte gut. Lüth zweifelt nicht nur am Zweifel, sondern am Zweifel am Zweifel.

  6. Dieser Triple-Zweifel liegt doppelt quer zum Zeitgeist des Kunstbetriebs, in dem jede/r per Definition immergenial ist. Und, was die Mehrzahl der Kunstschaffenden betrifft, stimmt’s ja. Fast alle wähnen sich oder sind, allein durch die immer weiter perfektionierte Kunstdidaktik, aber auch durch immer bessere Autodidaktik der Youtube-Lehrgänge und der, ja, Gewöhnung an den „radical chic“ in sozialen Medien wie Instagram, zweifellos in den künstlerischen Mitteln gewandt. Alle sind vorn.

  7. So freut es mich, dass Andrea Lüth sich durch ihren Triple-Zweifel, wenn schon nicht ihrem Genius, dann doch
    ihrer Intuition, was die Bildidee betrifft, hingeben kann. Die Bildausführung bleibt dabei provisorisch, vage, zögerlich, fragmentarisch, assoziativ.

  8. Daran, meine ich, erkennt man jede aktuelle Kunst, die den Geschmack des Publikums aus nichtkünstlerischen Berufen (und auch mich!) noch verunsichern und also berühren kann. Wir leben in einer Zeit, in der die äußerliche Kontrolle durch die Bürokratie längst internalisiert und als Optimierungsstrategien (je nach Milieu verschieden) umgesetzt wird. Gerade in der Überflussgesellschaft sind wir angehalten, auch als Kunstschaffende, dies oder jenes zu machen, um dies oder jenes zu „erreichen“. Diese Art der Kontrolle, die in der Kunst entweder als Moral (Über-Ich-Kunst wie politische Konzeptkunst, Performance-Aktivismus im Dienste einzelner Identitätsgruppen) oder als kunsthistorische Übervorsicht („wurde das nicht schon gemacht?“) ausformt, wird auch bei Andrea Lüth immer wieder durch lustvolle oder triebhafte innerliche Durchbrüche durchkreuzt, die freilich durch Zweifel gleich wieder eingefangen werden. Lüth zeigt so kurz, wohin sie tendiert und was sie machen könnte, dass man es ihr nicht als zu „originell“ übelnehmen und vorwerfen könnte. Damit ist sie nicht allein. Kunst wie jene von Gelitin im Aktions-Genre, Mary Heilmann und Walter Swennen in der Malerei oder Kris Lemsalu in der Gesamtkunsttradition sind Zeugen dieses Wechselspiels zwischen Ekstase und Kontrolle, das für den Außenstehenden oft wirr wirkt, im Kern jedoch das Pendeln unserer aller kontrollierter Psychen zwischen kontrollierter Triebabfuhr und triebhafter Kontrolle besser darstellt als „schlüssige“ und „eindeutige“ Kunstwerke.

  9. Dieses neue „Schweben“ zwischen Revolte und Angepasstheit wird wohl bis zum endgültigen Verglühen der bürgerlichen Herrschaftsform nicht nur die Kunst sondern auch das Lebensgefühl jener bestimmen, die schon in die nächste geschichtliche (politische) Ära streben, es aber bisher nur im Spielraum der Kunst dürfen.

  10. So gesehen betrauert Lüth – wie ich! – nur noch aus sentimentalen Gründen die Auflösung der Kunstgeschichte im Google-Suchalgorithmus. Ihr Zweifel ist Ausdruck der innerlichen Arbeit an Merkmalen einer neuen unbürgerlichen Kunstgeschichte – der Kunstgeschichte unserer Nachfahren, zu der wir leider zählen wollen.

Thomas Raab, September 2021

PDF

previous exhibition
next exhibition

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14